Ladiner-Identität auf zwei Rädern

Anfang Juli 2025 strampelten sie wieder beim 38. Maratona dles Dolomites. 8.000 Radsportler nahmen teil, die zur Hälfte per Auslosung und zur Hälfte über garantierte Startplätze ausgewählt wurden. Insgesamt gingen 32.700 Anfragen aus 81 Nationen ein. Es gibt drei Rennstrecken zur Auswahl: Die längste ist 138 Kilometer lang und hat 4.230 Höhenmeter. Das ist etwas für Helden. Auch die 1.550 Freiwilligen sind Helden. Und dann ist da noch ein ganz besonderer Hero: Daniel Frenes, der mit seiner Arbeit die Ladiner-Identität in jedem Detail des Rennens sichtbar macht.

Handwerk mit Herz

Eigentlich führt er einen Einrichtungsbetrieb und einen Schreibwarenladen. Seit vier Jahren gestaltet er die Medaillen des Radrennens – jedes Jahr 8.000 Stück. Sie sollen eine Verbindung zwischen Natur und Handwerk sein, sie stehen jedes Jahr unter einem Motto und stammen einzig aus heimischen Materialien. 2024 hieß das Motto: Mutatio und Frenes ließ Augen, Herz und Hirn schweifen. Er verarbeitete 1,5 Kubikmeter Fichtenbretter und 100 Quadratmeter sonnenpatinierte Bretter aus alten Scheunen.

2025er Medaillen des Radrennens Maratona dles Dolomites
Daniel Frenes gestaltet die Medaillen des Radrennens ©Nicola Förg

„Die Kombination von neuem und altem Holz soll den Wandel der Zeit, die Mutatio, unterstreichen“, sagt Frenes. Das Motto dieser Ausgabe lautete Lüm, ladinisch Licht. Daniel Frenes dachte nach, rätselte, verwarf Ideen wieder, bis er sich vom eindrucksvollen Phänomen der Enrosadira inspirieren ließ, das die Gipfel bei Sonnenuntergang in Rosa- und Orangetöne taucht.

Licht, Holz und roter Stein

Er sammelte roten Stein am Fuße des Sas dla Crusc. Und organisierte 1,5 Kubikmeter starkes Zirbenholz mit einer Dicke von 60 Millimeter. Das Zirbenholz wurde in kleinere Stücke geschnitten, auf diese dann mittels Brandtechnik das LÜM-Logo aufgebracht. Anschließend wurde der rote Stein bearbeitet: zuerst zerbrochen, dann fein gemahlen. Der entstandene Sand wurde gesiebt, in die Gravur des Logos eingefüllt und vorsichtig gebürstet. Aus den geglätteten Holzplatten, von denen überschüssiges Material entfernt wurde, entstanden die Holzscheiben – wieder rund 8.000 Stück. Auch dieses Ritual zeigt die Tiefe der Ladiner-Identität.

Wer „Finisher“ dieses Rennens ist, gehört so zu einem exklusiven Zirkel, der etwas Einzigartiges mitnehmen darf: die Medaille und ein Gemeinschaftsgefühl, das nicht nur über den Sport transferiert wird. Das Konzept „Nos Ladins – Wir Ladiner“ lädt Gäste ein mitzu(er)leben, was Ladiner schaffen, im heimischen Handwerk oder in der lokalen Küche – Daniel Frenes macht bei diesem touristischen Angebot auch mit.

Kulinarik ohne Kalkül

Wenn es um die Küche geht, dann führt kein Weg am Hotel Gran Ander bei Familie Irsara vorbei. Drei Generationen sind echte Gastgeber. Da ist die emphatische Nonna Rita, die umsichtige Schwiegertochter Evelyn und da ist Andrea, einer der besten Köche Südtirols. Sohn Maximilian ist nach Wanderjahren in hochkarätigen Betrieben auch in der heimischen Küche zurück. Die Familie lebt eine unaufgeregte, ehrliche Gastronomie, die zutiefst in der Ladiner-Identität verwurzelt ist.

Vater und Sohn Andrea und Maximilian Irsara kochen gemeinsam am Herd
Ein eingespieltes Vater-Sohn-Gespann am Herd sind Andrea und Maximilian Irsara ©Nicola Förg

Die beiden kochen simpel und sexy. Das Produkt steht im Zentrum. Kein Dekorations-Chichi auf den Tellern, nur Geschmacksexplosionen im Mund. Gäste gehen als Freunde. Die Bescheidenheit und Höflichkeit der Familie schwappt über, und das ist eben keine Show. Dass Andrea nun auch Jäger geworden ist, und noch mehr die Natur verstehen will und Spuren lesen – in allen Wortbedeutungen – ist auch kein Kalkül.

Die stille Revolution der Hüttenwirte

Noch einer ist Wirt ohne Kalkül. Markus Valentini stammt aus La Ila, La Villa oder Stern, auf 1.483 Metern der Hauptort des Gadertales. Sein Vater Gottlieb hat weit oben hinterm Pia La Ila die Almwiesen gemäht, im aufkommenden Tourismus eine kleine Hütte bewirtschaftet, die größer wurde. „Früher habe ich in der Skisaison einen Karton Willi am Tag gebracht“, lächelt Valentini, „heute sind es keine drei Kartons.“ Die munteren Saufrunden sind Geschichte. „Ich habe auch keine Musik auf der Terrasse, man soll den Berg hören.“

Es kommt der Genussgast und die Ütia Bioch kann Genuss. 11.000 Flaschen Wein lagern auf 2079 Metern. Valentini hat 2020 als erste Hütte den Südtiroler Weinkulturpreis gewonnen, 2024 erneut. „Das war mir peinlich, nicht schon wieder wir, hab ich gedacht.“ Auch er ist sehr bescheiden aufgewachsen. „Wir haben uns als Kinder geschämt, dass wir Lederhosen tragen mussten, aber dann begriffen, dass wir Teil einer einzigartigen Gemeinschaft sind. Und dass das auch verpflichtet.“ Die Ladiner-Identität lebt hier in der Verantwortung für Land, Leute und Lebensweise.

Ein Leitbild für die Zukunft

„Nó sté a vene tu tera, tua vita“ wurde vor einigen Jahren in einer der Serpentinen der Grödnerjochstraße auf die Mauer gesprüht, auch dort geht das Radrennen vorbei. Das meint „Verkaufe nicht deine Heimat, verkaufe nicht dein Leben.“ Längst werden vor allem rund um Corvara Immobilienpreise aufgerufen, die keine einheimische Familie mehr zahlen kann, weil reiche Norditaliener sich zu Fabelpreisen einkaufen.

Markus Valentini steht vor einem Flaschenregal voller Weine und ist Vordenker der Ladiner-Identität
Markus Valentini ist einer der Vordenker der Ladiner-Identität ©Nicola Förg

Valentini ist auch Vordenker einer Gruppierung, die sich ein Leitbild gegeben hat: „Bis 2030 soll Alta Badia Modellregion sein für die sinnvolle Verbindung aus ladinischer Kultur, modernem Lifestyle und dem Hochgenuss majestätischer Berge zum Wohl von Mensch, Natur und Wirtschaft“, sagt er. „Wir haben momentan kein direktes Overtourism-Problem, wir haben ein Mobilitätsproblem“, sagt Valentini. Dort wollen sie ansetzen.

Diskussion der Möglichkeiten

Eine Maut auf Dolomitenstraßen wird diskutiert, auch eine Kontingentierung von Fahrzeugen. Das muss vor allem auch politisch und auf Gesetzesebene gestaltet werden, zudem überschreitet man Provinzen, aber alle wissen, dass es im UNESCO-Weltkulturerbe nicht mehr zeitgemäß ist, mit Motorrädern und Cabrios sinnfrei durch fragile Berggebiete zu brettern. Wie schön das ohne Autoverkehr ist, zeigt auch das Radrennen, wenn die Pässe gesperrt sind. Diese Haltung ist ein Spiegel der Ladiner-Identität.

Bevor die Römer den Alpenraum beanspruchten, lebten auch im heutigen Alta Badia die Räter. Aus deren Sprache und dem Lateinischen entstand eine eigene Sprache, die manche als „Vulgärlatein“ bezeichnen. Es ist eine klingende Sprache. „Du kommst aus dem breiten Brunecker Tal, es wird enger und plötzlich, vor Zwischenwasser, ist da die Sprachgrenze. Die Menschen sprechen Ladinisch, rund ums Gadertal sind es etwa 10.000“, sagt Giovanni Mischi. „Was für ein Faszinosum! Diese Sprache hat sich über 2.000 Jahre erhalten. Sie war anfangs nur mündlich tradiert, erst im 17. Jahrhundert gab es wenige schriftliche Zeugnisse, seit 1989 ist Ladinisch Amtssprache.“

Wörter, Wurzeln und Widerstand

Dottore Giovanni Mischi ist sozusagen der oberste Hüter des Ladinischen in einer sehr gewichtigen Art und Weise. Sieben Jahre lang hat er an einem Wörterbuch Ladinisch-Deutsch und vice versa gearbeitet. Zwei Bände sind es, jedes wiegt 3,5 Kilogramm. Diese titanische Arbeit lag ihm am Herzen, denn das Ladinische hat man sich in den Dolomiten hart erkämpft. „Wir Ladiner in den Dolomiten sind in Italien sozusagen eine Minderheit in der Minderheit. Vor allem in der dunklen Zeit des Faschismus hat man das Ladinische zu einem Dialekt herabgewürdigt. Die Sprache blühte weiter im Verborgenen und ist heute weit mehr als ein Geheimkodex.“ Die Ladiner-Identität ist eng mit dieser sprachlichen Widerstandskraft und kulturellen Selbstbehauptung verbunden.

Ladiner-Identität auf zwei Rädern b Dottore Giovanni Mischi Ladiner-Identität
Dottore Giovanni Mischi arbeitete sieben Jahre an seinem Wörterbüchern ©Nicola Förg

Diese Sprache ist Alltagssprache und Identität zugleich. „Ich bin stolz, Ladiner zu sein“, sagt Mischi, der aus Campill stammt, ein 1964er Jahrgang, dessen Eltern ihn gerade so durchgebracht haben. Er ist bescheiden geblieben, Mischi hat nicht vergessen, wie erbarmungslos die Bergnatur seiner Kindheit war. Hier hoch oben über dem Gadertal haben sich beidseitig die „Viles“ erhalten. Die Ladiner-Identität zeigt sich in diesen traditionellen Lebensformen, die bis heute ein solidarisches Miteinander fördern.

Nachbarschaft, Natur und Nachdenklichkeit

Statt der alleinstehenden Berghöfe in den Nordalpen gruppieren sich hier einige Häuser um einen Mittelplatz, oft auch eine Kapelle – drei, vier Familien halfen zusammen im Sinne von Nachbarschaftshilfe. Und im Sinne von sensiblem Umgang mit der Natur: Der Wald wurde dort, wo Gefahr von Lawinen oder Erdrutschen bestand, nicht abgeholzt. Die Häuser stehen stets auf mittlerer Hanghöhe, so dass sie die maximale winterliche Sonneneinstrahlung aufsaugen können. Dieses durchdachte, nachhaltige Siedeln ist Ausdruck einer gelebten Ladiner-Identität, die sich über Generationen bewährt hat.

Mischi ist ein leiser Mann, der nachdenklich auf die Welt schaut und seine Menschen. Er geht sonntags in Campill in die Kirche, obgleich ihm viele Auswüchse der katholischen Kirche zuwider sind. „Aber es geht um den Moment. Es geht um ein Gemeinschaftsgefühl.“ Es geht um „das Danach“ beim Dorfwirt, und dass man dort auch den passenden Handwerker für ein brennendes Problem findet, ist ein Zusatznutzen. Mit Mischi kann man trefflich philosophieren über die Welt. Er sieht überall, dass der Mensch sich quasi de-synchronisiert hat. Doch genau diese gemeinschaftsstiftenden Rituale, das Verweilen, Zuhören und Miteinander – sie sind es, die die Ladiner-Identität lebendig halten.

Wert und Wandel der Ladiner-Identität

Früher gaben Jahreszeiten die Tätigkeiten vor, das Kirchenjahr verband die Menschen in Festen. Heute ist jeder gnadenlos individualistisch, getrieben – und am Ende doch unglücklich. Das soziale Wesen Mensch scheint ein Gemeinschaftsgefühl eben doch zu brauchen, etwas, was die Ladiner immer noch und gerade jetzt besitzen. Starke Wurzeln in einer bäuerlichen Welt, Bescheidenheit und Demut, Respekt vor Mitlebewesen und der Natur – all das formt die Ladiner-Identität, die als Orientierung in einer entwurzelten Zeit dienen kann.

Im Heute spielt Rita Karten am PC in der Rezeption. Im Heute ist Giovanni sehr stolz, dass sein Wörterbuch auf www.woerterbuchnetz.de online steht. Im Heute recherchiert Daniel auch intensiv im Internet nach Inspirationen und der zündenden Idee. Es gibt ein bekanntes Künstler-Ehepaar im Tal. An diese beiden wurde tatsächlich die Frage herangetragen, ob sie nicht Gäste exklusiv in ihr Haus einladen würden. Saturierte Gäste, „die doch schon alles haben“, hieß es.

Wenn alle Tünche von Materiellem nicht mehr deckt, wenn die Statussymbole schal werden – was kommt dann noch? Eben doch die Sehnsucht nach einer heilen Welt? Sie ist im Gadertal auch nicht mehr ganz heil, aber es gibt ein paar Zutaten, die hilfreich erscheinen: gelebte Gemeinschaft, Naturverbundenheit, Sinnsuche – kurz: die Ladiner-Identität als kulturelles Gegengewicht zur Rastlosigkeit unserer Zeit.


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